Die Vorwürfe klingen ungeheuerlich, doch Dementis blieben aus: Die palästinensische Terrororganisation Hamas koordiniert Angriffe gegen Israel offenbar aus einer mehrstöckigen Kommandozentrale unterhalb des zentralen Al-Shifa-Krankenhauses heraus, mitten in Gaza-Stadt. Aus einer Simulation der israelischen Streitkräfte (IDF) geht hervor, dass es sich nicht etwa um einen separaten Tunnel, sondern um das eigentliche Fundament des Kliniku*ms handelt – für dort arbeitende Rettungskräfte und Ärzte kaum zu übersehen, dass es sich um eine militärische Einrichtung handelt.
The IDF has just exposed that Hamas is using Al Shifa hospital as their overground and underground headquarters and that they are stealing the fuel for their underground tunnels instead of giving it to the hospital pic.twitter.com/jVNKfjtz2c
— Brooke Goldstein (@GoldsteinBrooke) October 27, 2023
Für die israelischen Streitkräfte ist der Fall klar: Es handelt sich aus ihrer Sicht um ein als Krankenhaus getarntes militärisches Ziel. Das Personal von Al Shifa und aller anderen Krankenhäuser von Nord-Gaza wurde dazu aufgefordert, diese Einrichtungen zu evakuieren. Doch in keinem dieser Hospitäler kam man dieser Aufforderung nach.
Israel
31.10.2023
15:57
Berlin
02.11.2023
11:17
Ärzte und Rettungskräfte reagieren ausweichend auf Fragen nach Hamas-Kommandozentrale im Al-Shifa-Hospital
Am Sonntag berichtete der Rote Halbmond, die palästinensische Schwesterorganisation des Internationalen Roten Kreuzes, von konkreten Drohungen der IDF, das ebenfalls in Gaza-Stadt liegende Al-Quds-Krankenhaus zu bombardieren. Im Visier der israelischen Militärs ist vor allem das Al-Shifa-Krankenhaus mit der dort vermuteten Einsatzzentrale der Terrororganisation.
Zugleich ist Al Shifa aber ein großes Krankenhaus, in demunter anderem die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) einen Operationssaal betreibt, wo Verletzte mit Verbrennungen und schweren Verletzungen behandelt werden. Ein MSF-Arzt im Al-Shifa-Hospital, Mohammad Hawjreh, wurde am Montagabend im katarischen TV-Sender Al Jazeera mit der Frage konfrontiert, was er von der mutmaßlichen Hamas-Kommandozentrale wisse. Die Antwort blieb aus.
Ärzte ohne Grenzen stehen in Kontakt mit Einsatzkräften in Al Shifa, Krankenhaus völlig überfordert
Ich hake bei der deutschen Niederlassung von Ärzte ohne Grenzen nach. Die MSF-Pressesprecherin geht auf die Frage nach der Hamas-Kommandozentrale auch nicht ein, bringt dagegen das Dilemma der Hilfskräfte vor Ort auf den Punkt:
„Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit Jahren im Al-Shifa-Krankenhaus und leistet dort chirurgische Hilfe. Während der jüngsten Eskalation in Israel und den palästinensischen Gebieten haben einige unserer palästinensischen Kolleg:innen ihre Arbeit dort fortgesetzt. Wir stehen in Kontakt mit ihnen. Wir können Ihnen nur das wiedergeben, was sie uns über ihre medizinische Arbeit in Al-Shifa berichten, während sie dort Patient:innen behandeln: In das Krankenhaus werden Hunderte Patient:innen gebracht, die oftmals schreckliche Verletzungen haben. Das Krankenhaus ist völlig überfordert.“
Ärzte ohne Grenzen: Medizinische Einrichtungen dürfen nicht angegriffen werden
Obwohl das Krankenhaus kaum noch in der Lage sei, die Verletzten zu versorgen, weist man auch weitere Schutzsuchende nicht ab – MSF spricht von Tausenden Familien:
„Unseren palästinensischen Kolleg:innen begegnen zudem Tausende Familien, die auf dem Krankenhausgelände Schutz vor den Bombardierungen gesucht haben. Wir fordern alle Konfliktparteien auf, Patient:innen, das medizinische Personal und in medizinische Einrichtungen geflohene Familien zu respektieren und zu schützen. Medizinische Einrichtungen stehen unter besonderem Schutz nach dem humanitären Völkerrecht und dürfen daher nicht für militärische Zwecke genutzt werden und auch nicht angegriffen werden.“
Die israelischen Streitkräfte berufen sich hingegen darauf, dass eine Hamas-Kommandozentrale ein kriegsrechtlich legitimes Angriffsziel darstelle. Ärzte, Rettungskräfte und Patienten wären dieser Argumentation zufolge als „Kollateralschaden“ in Kauf zu nehmen, insofern diese sich entweder freiwillig oder gezwungenermaßen in die Schusslinie begeben. Diese Argumentation ist nicht unumstritten; führende Völkerrechtler argumentieren allerdings, Zivilisten könnten ihren Schutzstatus verlieren, wenn sie sich in der Nähe eines militärischen Ziels befänden.
Israelische Streitkräfte fordern Krankenhäuser zur Evakuierung auf – aber ist das überhaupt möglich?
Für die Behauptung, die IDF bombardierten gezielt Krankenhäuser mit dem Ziel, Unbeteiligte zu töten, spricht allerdings wenig: Vielmehr hatten die israelischen Streitkräfte frühzeitig Evakuierungsaufforderungen für den Norden Gazas öffentlich gemacht, die sich an Unbeteiligte richteten. Hunderttausende kamen ihnen nach, andere verharrten in Nord-Gaza, darunter Pflegekräfte und Ärzte der Krankenhäuser.
Aber selbst wenn diese entscheiden würden, ein Krankenhaus wie Al-Shifa zu evakuieren, das mehrere Hundert teils Schwerstkranke behandelt, wie könnte so etwas funktionieren? Grundsätzlich hat jedes Hospital für den Fall von Naturkatastrophen, Bränden und anderer Vorkommnisse Evakuierungspläne.
Die MSF-Sprecherin verweist jedoch auf die besonders schwere humanitäre Situation in Gaza: Selbst unter Friedensbedingungen und mit allen nötigen technischen, infrastrukturellen und personellen Voraussetzungen sei„die Evakuierung eines Krankenhauses ein gewaltiger logistischer Akt (…). In der momentanen Situation in Gaza ist es nahezu unmöglich, Krankenhäuser zu evakuieren. Kein Ort ist momentan im Gazastreifen sicher vor Beschuss, es gibt immer wieder komplette Kommunikationsausfälle. Auch Transportwege sind keinesfalls überall zugänglich. Es geht schon längst der Treibstoff aus, um überhaupt noch Generatoren für eine Stromzufuhr zu betreiben. Bei einer Evakuierung würde ganz klar das Leben von Patient:innen – und wir sehen dort viele mit schweren Verletzungen, die intensivmedizinische Betreuung benötigen – und medizinischem Personal gefährdet“.